Boten

 

Arutha beobachtete den Horizont.

Gruppen von Reitern galoppierten durch das Tor, während weit hinter ihnen Staub in den Himmel gewirbelt wurde. Murmandamus' Truppen marschierten auf Armengar. Die letzten Flüchtlinge aus den Kraals und Steadings erreichten die Tore, und mit ihnen kamen Herden von Rindern und Schafen sowie mit Getreide beladene Wagen. Da die Bevölkerungszahl der Stadt seit Jahren abnahm, war genug Platz für alle, selbst für das Vieh.

In den letzten Tagen hatten Guy, Amos, Armand de Sevigny und die anderen Kommandanten immer wieder kleinere Gefechte geführt. Die anmarschierende Armee war gebremst worden, damit die Flüchtlinge die Stadt erreichen konnten. Arutha und die anderen waren von Zeit zu Zeit mit den Patrouillen geritten und hatten wenn möglich Hilfe geleistet.

An Aruthas Seite beobachteten nun Baru und Roald, wie die letzte Truppe von armengarischen Reitern das Feld räumte, ehe das Heer von Murmandamus angedonnert kam. Baru sagte: »Der Protektor.«

»Einauge macht es dieses Mal spannend«, meinte Roald. Den dahinjagenden Reitern folgte dicht auf die Kavallerie der Moredhel und dahinter Goblins zu Fuß. Die Dunkelelben ließen die verbündeten Goblins rasch hinter sich zurück und hetzten Guys Truppe. Doch als sie den hintersten Mann einholten, drehten sich die Bogenschützen einer anderen Truppe um und ließen über Guys Männer hinweg Pfeile auf die Moredhel regnen. Diese brachen die Verfolgung ab und zogen sich zurück. Die beiden Gruppen der Armengaren hielten eilig auf das Tor zu.

Arutha sagte leise: »Martin war bei ihnen.«

Jimmy und Locklear kamen herbeigelaufen, und Amos folgte kurz danach. Der frühere Kapitän sagte: »De Sevigny meint, wenn irgend jemand es nach Yabon schaffen soll, dann muß er heute nacht aufbrechen. Später werden sich die Patrouillen aus den Bergen in ihre Schanzen zurückziehen. Von morgen mittag an werden sich dort oben nur noch Dunkle Brüder und Goblins herumtreiben.«

Arutha hatte schließlich Barus Plan doch zugestimmt. »Gut, aber ich möchte noch einmal mit Guy sprechen, bevor wir jemanden losschicken.«

»So wie ich Einauge kenne«, sagte Amos, »und ich kenne ihn ganz gut, wird er Augenblicke, nachdem das Tor geschlossen ist, neben Euch stehen.«

Und wie Amos vorausgesagt hatte, erschien Guy auf der Mauer, sobald der letzte der versprengten Soldaten sicher innerhalb der Tore gelandet war, und betrachtete die vorrückende Armee.

Er gab ein Zeichen, und die Brücke über den Wassergraben wurde eingezogen und verschwand langsam in den Fundamenten der Mauer. Roald warf einen Blick nach unten und sagte: »Ich habe mich schon gefragt, wie sie das Ding bewachen wollten.«

Guy deutete auf den nun alles abriegelnden Wassergraben. »Eine Zugbrücke kann im Gegensatz zu dieser Konstruktion auch von außen heruntergelassen werden. Diese hier hat unter den Torhäusern eine Winde, und sie kann nur von dort aus betrieben werden.« An Arutha gewandt sagte er: »Ich fürchte, wir haben uns verrechnet. Ich dachte, wir würden fünfundzwanzigtausend oder vielleicht dreißigtausend Soldaten gegenüberstehen.«

»Und was schätzt Ihr jetzt, wie viele es sind?« fragte Arutha.

Martin und Briana kamen die Treppe herauf. Guy sagte: »Eher an die fünfzigtausend.«

Arutha sah seinen Bruder an. Der sagte: »Ja, ich habe noch nie so viele Goblins und Moredhel auf einem Haufen gesehen, Arutha. Sie kommen wie eine Flut von den Bergen und aus den Wäldern. Und das ist nicht alles. Bergtrolle, ganze Kompanien. Und Riesen.«

Locklear riß die Augen auf. »Riesen!« Er warf Jimmy einen ängstlichen Blick zu, doch der ältere Junge stieß ihn nur mit dem Ellbogen in die Seite.

»Wie viele?« fragte Amos.

Guy sagte: »Es scheinen mehrere hundert zu sein. Sie sind gute vier oder fünf Fuß größer als die anderen. Wenn sie sich in der Armee ähnlich zerstreut haben wie die anderen, müssen sich unter dem Banner von Murmandamus mehrere tausend versammelt haben. Und selbst jetzt befindet sich der größte Teil seiner Truppen noch in dem Lager nördlich des Tals von Isbandia, mindestens eine Woche entfernt. Was jetzt auf uns zukommt, ist nur die erste Welle. Bis heute abend werden zehntausend ihr Lager vor den Mauern errichtet haben. Und innerhalb von zehn Tagen werden es fünfmal so viele sein.«

Arutha sah eine Weile schweigend hinaus auf die Ebene, dann sagte er: »Meint Ihr denn, Ihr könnt sie so lange aufhalten, bis Verstärkung aus Yabon kommt?«

»Wäre das eine normale Armee, würde ich sagen, wir können«, antwortete Guy. »Doch die jüngsten Erfahrungen zeigen, daß Murmandamus einige Tricks auf Lager hat. Selbst wenn ich großzügig schätze, wird Murmandamus die Stadt in vier Wochen geplündert haben, denn anderenfalls wird er es nicht mehr über die Berge schaffen. Er muß seine Truppen über ein Dutzend kleinerer Pässe schicken, seine Armee auf der anderen Seite neu formieren und dann direkt auf Tyr-Sog marschieren. Nach Westen Richtung Inclindel kann er nicht ziehen, weil es zu lange dauern würde, bis er die Garnisonen auf dem Weg nach Tyr-Sog beseitigt und die Stadt erreicht hätte, und weil inzwischen Verstärkung aus Yabon und aus Loriel eintreffen würde. Er muß sich schnellstens im Königreich festsetzen, damit er sich auf den großen Angriff im Frühjahr vorbereiten kann. Wenn er hier nur eine Woche hinter seinem Zeitplan zurückbleibt, riskiert er, in den Bergen vom ersten Schnee überrascht zu werden. Die Zeit ist momentan sein ärgster Feind.«

Martin sagte: »Die Zwerge!«

Arutha und Guy wandten sich dem Herzog von Crydee zu. Martin erklärte: »Dolgan und Harthorn halten am Steinberg eine Versammlung mit allen Mitgliedern ihrer Sippe ab. Das müssen zwei- bis dreitausend Zwerge sein.«

Guy meinte: »Zweitausend Zwergenkrieger könnten uns durchhalten lassen, bis Vandros' schwere Fußsoldaten von Yabon aus die Berge überquert hätten. Selbst wenn wir Murmandamus nur zwei Wochen zusätzlich aufhalten können, bricht er den Angriff ab, glaube ich. Anderenfalls bleibt seine Armee höchstwahrscheinlich in den winterlichen Bergen von Yabon stecken.«

Baru sah von Arutha zu Guy. »Wir werden eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit aufbrechen.«

Martin sagte: »Ich gehe mit Baru und mache mich auf den Weg zum Steinberg. Dolgan kennt mich.« Und mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen fügte er hinzu: »Ich bin überzeugt, er wird sich diese Schlacht nur widerwillig entgehen lassen. Und anschließend ziehe ich weiter nach Yabon.«

»Könnt Ihr den Steinberg innerhalb von zwei Wochen erreichen?« fragte Guy.

»Das ist schwierig, aber nicht unmöglich«, erwiderte der Hadati. »Eine kleine Gruppe, die schnell vorankommt ... ja, es ist möglich.« Niemand mußte dem noch ein ›eventuell‹ hinzufügen. Die Boten müßten mehr als dreißig Meilen am Tag zurücklegen, dessen waren sich alle bewußt.

Roald sagte: »Ich würde es auch gern versuchen. Nur für den Fall.« Er sagte nicht, welchen Fall er meinte, doch alle wußten, es ging um die Möglichkeit, daß weder Martin noch Baru durchkamen.

Arutha hatte zugestimmt, daß Martin mit Baru ging, weil der Herzog von Crydee fast so gut wie der Hadati für die Reise durch die Berge geeignet war. Was Roald betraf, war er sich da nicht so sicher. Er wollte schon nein sagen, als sich Laurie einmischte: »Ich sollte auch besser mitkommen. Vandros und seine Kommandanten kennen mich, und falls die Nachricht mit dem Siegel verloren geht, müssen wir sie irgendwie überzeugen. Vergiß nicht, Arutha, alle denken, du wärest tot.«

Aruthas Miene verdunkelte sich. Laurie sagte: »Wir haben es alle bis zum Moraelin und zurück geschafft, Arutha. Wir haben Erfahrung in den Bergen.«

Endlich meinte der Prinz: »Ich bin mir gar nicht sicher, ob das eine gute Idee ist, nur leider habe ich auch keine bessere.« Er sah hinaus auf die anmarschierende Armee. »Ich kenne mich nicht besonders gut mit Prophezeiungen aus, aber wenn ich der Tod des Bösen bin, dann muß ich hierbleiben und mich Murmandamus stellen.«

Jimmy und Locklear wechselten einen Blick, doch Arutha erstickte jeden Versuch im Keim. »Ihr beide werdet auch hierbleiben. In einigen Tagen wird das zwar nicht mehr der sicherste Ort sein, aber immer noch besser, als wenn ihr euch nachts zwischen den Truppen von Murmandamus durch die Berge schleicht.«

Guy sagte zu Martin: »Ich werde Euch für die erste Zeit Deckung verschaffen. Wir werden einiges auf den Bergkämmen unternehmen. Unsere Posten über der Stadt kontrollieren immer noch einen großen Teil der Berge hinter Armengar. Murmandamus' Halsabschneider werden während der nächsten Tage hinter uns noch lange nicht ihre volle Stärke entfalten können. Wollen wir hoffen, sie gehen davon aus, daß alle in die Stadt wollen, und daß sie nicht besonders aufmerksam darauf achten, ob sich jemand in die andere Richtung aufmacht.«

Martin sagte: »Wir brechen zu Fuß auf. Wenn wir die Patrouillen hinter uns haben, besorgen wir uns Pferde.« Er lächelte Arutha an. »Wir werden es schon schaffen.«

Arutha sah seinen Bruder an und nickte. Martin nahm Briana in den Arm und verließ zusammen mit ihr die Mauer. Arutha konnte sich vorstellen, wieviel die Frau Martin bedeutete, und natürlich wollte sein Bruder die letzten Stunden in Armengar mit ihr verbringen. Ohne nachzudenken legte er Jimmy die Hand auf die Schulter. Jimmy sah den Prinzen an und folgte seinem Blick über die Ebene vor der Stadt, wo unter aufsteigenden Staubwolken eine Armee im Anmarsch war.

 

Martin hielt Briana dicht an sich gedrückt im Arm. Sie hatten sich den ganzen Nachmittag über in ihr Zimmer zurückgezogen. Ihrem stellvertretenden Kommandanten hatte sie zukommen lassen, sie wolle nur im äußersten Notfall gestört werden. Zuerst hatten sie sich wie rasend geliebt, dann zärtlicher. Zum Schluß hielten sie sich nur noch in den Armen und ließen die Zeit verstreichen.

Endlich sagte Martin: »Ich werde bald gehen müssen. Die anderen versammeln sich sicher schon vor der Tür zum Tunnel in die Berge.«

»Martin«, flüsterte sie.

»Ja?«

»Ich wollte nur deinen Namen sagen.« Sie betrachtete sein Gesicht. »Martin.«

Er küßte sie und schmeckte das Salz der Tränen auf ihren Lippen. Sie klammerte sich an ihn und sagte: »Erzähl mir etwas über morgen.«

»Morgen?« Martin war verwirrt. Er hatte sich Mühe gegeben, nicht über die Zukunft zu sprechen, weil sie ihn darum gebeten hatte. Vom Leben bei den Elben geprägt, verfügte Martin über eine schier unendliche Geduld, doch seine Gefühle Briana gegenüber drängten ihn zu einer festen Bindung. Er hatte diesen Konflikt beiseite geschoben und nur im Augenblick gelebt. Leise sagte er: »Du hast gesagt, wir dürften nicht an morgen denken.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß, aber jetzt will ich es trotzdem.« Sie schloß die Augen und sagte leise: »Ich habe dir mal gesagt, daß ich als Kommandantin Zugang zu Wissen habe, von dem der größte Teil der Stadt nichts ahnt. Ich weiß zum Beispiel, daß wir diese Stadt höchstwahrscheinlich nicht halten können und in die Berge fliehen müssen.« Sie schwieg einen Moment lang, dann fuhr sie fort: »Versteh mich richtig, Martin, wir kennen nichts außer Armengar. Bis der Protektor zu uns kam, ist uns der Gedanke, daß wir eines Tages woanders leben müssen, niemals in den Sinn gekommen. Jetzt habe ich nur eine schwache Hoffnung. Erzähl mir, was morgen sein wird, und am Tag danach, und an dem Tag, der darauf folgt. Erzähl mir etwas über die ganze Zukunft. Erzähl mir, wie es sein wird.«

Er schmiegte sich an sie und wiegte ihren Kopf sanft auf seiner Brust. Vor Liebe errötete er fast, und etwas in ihm drängte nach draußen. »Ich werde es durch die Berge schaffen, Bree. Niemand kann mich aufhalten. Ich werde Dolgan und seine Sippe hierherführen. Dieser alte Zwerg würde es mir persönlich übelnehmen, wenn ich ihn nicht zu dieser Schlacht einladen würde. Wir werden Murmandamus in die Enge treiben und seinen Angriff zum zweiten Mal zurückschlagen. Seine Armee wird auseinanderlaufen, und wir werden ihn wie einen Hasen jagen und vernichten. Vandros wird seine Truppen von Yabon aus losschicken und euch den Rücken stärken. Dann werdet ihr in Sicherheit sein. Und es wird eine Zeit kommen, in der eure Kinder wieder Kinder sein dürfen.«

»Und was wird aus uns?«

Er beachtete die Tränen nicht, die ihr über die Wangen liefen, und sagte: »Du wirst Armengar verlassen und nach Crydee gehen. Dort wirst du mit mir leben, und wir werden glücklich sein.«

Sie weinte. »Ich möchte das gern glauben.«

Er schob sie zärtlich zur Seite und hob ihr Kinn. Dann küßte er sie und sagte: »Glaub mir, Bree.« Seine Stimme war belegt. Nie im Leben, hatte er immer gedacht, könnte er so ein bittersüßes Glück fühlen. Jetzt, wo er endlich Liebe für jemanden empfand, wurde dieses Gefühl von dem heraufziehenden Wahnsinn und der drohenden Vernichtung überschattet.

Sie betrachtete sein Gesicht, dann schloß sie die Augen. »Ich möchte dich so in Erinnerung behalten. Geh, Martin. Sag nichts.«

Rasch stand er auf und zog sich an. Schweigend wischte er sich die Tränen aus den Augen und verbarg nach Elbenart seine Gefühle, während er sich innerlich auf die Gefahren des Weges vorbereitete. Er sah sie noch einmal lange an, dann verließ er sie. Als sie hörte, wie die Tür ins Schloß fiel, vergrub sie ihr Gesicht in den Kissen und weinte leise weiter.

 

Die Patrouille bewegte sich auf den Canon zu. Sie war ausgeritten, als wollte sie noch einen letzten Schlag führen, bevor sie sich in die höhergelegenen Schanzen zurückzog, die die Felshänge über der Stadt schützen sollte. Martin und seine drei Gefährten duckten sich hinter einer großen Felsformation und warteten. Sie hatten die Stadt durch einen geheimen Gang verlassen, der vom Bergfried aus durch den Berg hinter Armengar führte. Sie hatten die Route der Patrouille erreicht und verbargen sich jetzt in einem schmalen, vom Regen ausgewaschenen, tiefen Graben in der Nähe des Canons. Blutark lag still da, und Baru hatte ihm die Hand auf den Kopf gelegt. Der Hadati hatte herausbekommen, warum die Armengaren nichts dagegen hatten, daß er den Hund behielt. Zum ersten Mal, soweit sich die Bewohner der Stadt zurückerinnern konnten, hatte ein Drachenhund seinen Herrn überlebt, und da der Hund Baru als neuen Herrn anzuerkennen schien, hatte niemand etwas einzuwenden.

 

Martin flüsterte: »Wartet.«

Langsam verstrichen die Minuten, dann hörten sie leise Fußtritte aus der Dunkelheit. Eine Gruppe von Goblins eilte vorbei, ohne Licht und ohne Lärm, als beschattete sie die Patrouille. Martin wartete, bis sie in der Schlucht verschwunden waren, dann gab er ein Zeichen.

Sofort waren Baru und Blutark auf den Beinen und rannten durch den Graben. Der Hadati sprang auf die obere Kante des Grabens und griff nach unten, als Blutark einen Satz machte. Mit der Hilfe des Mannes aus den Bergen überwand der riesige Drachenhund den Höhenunterschied. Laurie und Roald sprangen ebenfalls, und Martin folgte einen Moment später. Dann führte Baru sie über den kahlen Berggrat. Für einen unendlich lang scheinenden Moment rannten sie, allen Blicken ausgesetzt, geduckt über offenes Gelände, bis sie sich in eine kleine Spalte werfen konnten.

Baru sah sich um, seine Gefährten landeten neben ihm. Er nickte ihnen kurz zu und führte sie dann in Richtung des Steinbergs nach Westen.

 

Drei Nächte lang zogen sie ohne Zwischenfälle weiter, schlugen beim ersten Tageslicht ein Lager ohne Feuer auf, verbargen sich bis zur Dunkelheit in einer Höhle oder einer Felsspalte und brachen dann wieder auf. Daß sie den Weg bereits von der Hinreise kannten, erwies sich als hilfreich, weil sie keine langen Umwege machen mußten. Trotzdem war eines sicher: die Armee von Murmandamus streifte durch die Berge und suchte nach den letzten versprengten Armengaren. Fünfmal in diesen letzten drei Tagen waren berittene Patrouillen oder Fußsoldaten an ihnen vorbeigezogen, während sie in ihrem Versteck gelegen hatten. Jedesmal waren sie nur deshalb nicht entdeckt worden, weil sie sich verbargen und nicht in Richtung Armengar flohen. Arutha hatte recht gehabt. Die Patrouillen suchten ausschließlich nach solchen, die Armengar noch erreichen wollten, und nicht nach Boten auf dem Weg nach Süden. Es würde nicht immer so gut laufen, darüber war sich Martin im klaren.

Bereits am nächsten Tag bewahrheiteten sich Martins Befürchtungen, als sie einen schmalen, von Moredhel bewachten Paß erreichten, den sie unmöglich umgehen konnten. Ein halbes Dutzend Moredhel der Bergclans saßen an einem Lagerfeuer, während zwei weitere bei den Pferden Wache hielten. Baru hatte gerade noch verhindern können, daß sie entdeckt worden waren, und nur, weil Blutark Laut gegeben hatte, waren sie den Moredhel nicht in die Arme gelaufen. Der Hadati hatte sich an einen großen Felsen gedrückt und acht Finger gehoben. Er machte eine Gebärde, daß zwei auf den Felsen standen und dort Wache hielten. Dann hielt er sechs Finger hoch, hockte sich hin und ahmte die Bewegung des Essens nach. Er zeigte um den Felsen herum und schüttelte den Kopf.

Martin nahm den Bogen vom Rücken. Er holte zwei Pfeile hervor, nahm den einen zwischen die Zähne und legte den anderen auf. Er hielt zwei Finger hoch und deutete auf sich selbst, dann zeigte er auf die anderen und nickte. Baru hielt sechs Finger hoch und deutete an, daß er verstanden hatte.

Martin schlich sich in Sichtweite und ließ den ersten Pfeil fliegen. Einer der Dunkelelben fiel rückwärts von seinem steinernen Sockel, woraufhin der andere von seinem höherliegenden Posten herunterspringen wollte. Ehe er unten ankam, hatte er einen Pfeil in der Brust. Baru und die anderen waren schon mit gezogenen Waffen an Martin vorbei. Barus Klinge pfiff durch die Luft, als er den nächsten Moredhel niederschlug, bevor der ihn erreichen konnte. Blutark warf ebenfalls einen zu Boden. Roald und Laurie übernahmen jeweils einen weiteren, und Martin ließ den Bogen fallen und zog das Schwert.

Der Kampf wurde hart, denn die Moredhel erholten sich schnell von der Überraschung. Während sich Martin auf den nächsten stürzte, hörten sie plötzlich Hufschläge. Einer der Moredhel war ohne Gegner geblieben und hatte die Flucht ergriffen. Er spornte sein Pferd an und war an den Angreifern vorbei, ehe die etwas dagegen unternehmen konnten. In Kürze hatten sich Martin und seine Gefährten der anderen Moredhel entledigt, und es wurde still im Lager. »Verdammt!« fluchte Martin.

Baru sagte: »Wir konnten nichts dagegen machen.«

»Hätte ich meinen Bogen nicht fallen lassen, hätte ich ihn erledigt. Aber ich war zu ungeduldig«, sagte er, als hätte er den schlimmstmöglichen Fehler begangen. »Nun, jetzt können wir nichts mehr daran ändern, wie Amos sagen würde. Zumindest haben wir nun Pferde, und die können wir gut gebrauchen. Ich weiß nicht, ob noch mehr Lager vor uns liegen, doch wir sollten uns beeilen und uns nicht weiter um Heimlichkeit bemühen. Dieser Moredhel wird bald mit seinen Freunden zurückkommen.«

»Seiner Art von Freunden«, fügte Laurie hinzu, während er aufsaß.

Roald und Baru waren ebenfalls sofort aufgestiegen, und Martin schnitt die Sattelgurte der drei verbleibenden Pferde durch. »Sie können die Pferde haben, aber dann sollen sie wenigstens auf dem nackten Rücken reiten.«

Die anderen sagten nichts, doch dieser Akt der bloßen Zerstörungswut machte ihnen klar, wie sehr sich Martin wegen der Flucht des Moredhel über sich selbst ärgerte. Der Herzog von Crydee gab das Zeichen, und Baru schickte Blutark an die Spitze. Der Hund lief voraus, und die Reiter folgten ihm auf den Fersen.

 

Der Riese wandte den Kopf, doch in dem Augenblick steckte bereits ein Pfeil zwischen seinen Schultern. Die zehn Fuß hohe Kreatur taumelte, und schon erwischte ihn ein zweiter Pfeil im Hals. Seine beiden Genossen stapften auf Martin zu, der rasch den dritten Pfeil auf den angeschlagenen Riesen abschoß.

Baru hatte Blutark befohlen stehenzubleiben, weil die hünenhaften menschenähnlichen Schwerter in der Größe von den bei Menschen gebräuchlichen Langschwertern schwangen, und sie hätten den Hund leicht in zwei Hälften geteilt. Trotz ihrer wankenden Bewegungen konnten die behaarten Kreaturen ihre Schwerter erstaunlich schnell einsetzen und sie waren ausgesprochen gefährlich. Baru ging in die Hocke, und das Schwert sauste über seinen Kopf hinweg, dann sprang er vorwärts und schlug auf seinen gewaltigen Gegner ein. Mit einem einzigen Streich machte er den Riesen kampfunfähig, und dieser ging zu Boden. Laurie und Roald hatten den dritten Riesen zwischen sich genommen und drängten ihn zurück, bis Martin ihn mit dem Bogen töten konnte.

Als alle drei tot am Boden lagen, holten Laurie und Roald die Pferde. Blutark schnüffelte an den Leichen und knurrte böse. Die Riesen sahen fast wie Menschen aus, waren jedoch zwischen drei und vier Meter groß. Insgesamt waren ihre Körper wesentlich stämmiger, und mit ihren schwarzen Haaren und Bärten sahen sie sich sehr ähnlich. Der Hadati sagte: »Die Riesen halten sich für gewöhnlich von Menschen fern. Was für eine Macht mag Murmandamus über sie haben, Martin?«

Martin schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich habe zwar Geschichten über sie gehört, und es soll sogar in den Bergen bei den Freien Städten welche geben. Doch sie meiden den Kontakt mit allen anderen Wesen und machen eigentlich nie Schwierigkeiten, so berichten die natalesischen Waldläufer. Vielleicht sind sie heutzutage genauso empfänglich für die Verführungen von Macht und Reichtum wie andere Kreaturen.«

»Der Legende nach waren sie einst Menschen wie du und ich, aber irgend etwas hat sie verwandelt«, bemerkte Baru.

Während sie aufsaßen, meinte Roald: »Ich kann das kaum glauben.«

Martin gab das Zeichen zum Aufbruch, und sie ritten weiter. Auch das zweite Gefecht mit den Wachen von Murmandamus hatten sie erfolgreich überstanden.

 

Blutark knurrte; vor ihnen auf dem Weg mußte etwas sein. Sie hatten eine Stelle oberhalb der Schlucht am Inclindel erreicht, wo sie den Weg am Berghang verlassen und in das Land Yabon hinunterreiten würden. In den letzten drei Tagen waren sie so schnell geritten, wie es ihnen möglich war. Die Anstrengung steckte ihnen in den Knochen, manchmal schliefen sie fast im Sattel ein, doch sie gönnten sich keine Rast. Die Pferde brauchten nicht mehr so schwer zu tragen, denn das Getreide, das die Moredhel bei sich gehabt hatten, war vor zwei Tagen zu Ende gegangen, und seitdem hatten sie kaum noch Futter für die Tiere gefunden. Sobald sie zu einer Wiese kommen würden, müßten sie die Pferde weiden lassen, doch Martin wußte, bei der Leistung, die sie den Tieren abverlangten, würden diese mehr als Gras brauchen, damit sie sie bis ans Ziel ihrer Reise trugen. Dennoch war er dankbar für die Pferde, denn seit sie reiten konnten, hatten sich ihre schwachen Chancen erheblich verbessert. Zwei Tagesritte noch, dann würden sie den Steinberg noch zur rechten Zeit erreichen, auch wenn die Tiere dann eingehen würden.

Baru gab den anderen das Zeichen stehenzubleiben. Er schlich sich auf dem schmalen Weg vorwärts und verschwand hinter einer Biegung. Martin verharrte regungslos mit schußbereitem Bogen, während Laurie und Roald die Reittiere hielten.

Baru erschien wieder und bedeutete ihnen, den Weg ein Stück zurückzugehen. »Trolle«, flüsterte er.

»Wie viele?« fragte Laurie.

»Ein ganzes Dutzend.«

Martin fluchte. »Können wir sie irgendwie umgehen?«

»Wenn wir die Pferde zurücklassen und oberhalb des Weges entlangschleichen, wäre das vielleicht möglich, aber ich bin mir nicht sicher.«

»Und ein Überraschungsangriff?« fragte Roald, obwohl er wußte, wie die Antwort lauten würde.

»Zu viele«, meinte Martin. »Drei gegen einen auf einem so schmalen Weg? Bergtrolle? Selbst wenn sie keine Waffen haben, können sie einem immer noch den Arm abbeißen. Nein, wir umgehen sie besser. Holt euch, was ihr braucht von den Pferden, laßt sie dann weiter oben laufen.«

Sie nahmen das, was sie an Ausrüstung benötigten, und Laurie und Roald brachten die Tiere fort, während Baru und Martin aufmerksam wachten, ob die Trolle den Weg hinaufkamen. Plötzlich kamen Laurie und Roald herangelaufen. »Dunkle Brüder«, sagte Roald.

»Wie nah?« fragte Martin.

»Zu nah, um hier herumzustehen und darüber zu reden«, erwiderte Roald und kletterte den Hang am Wegrand hinauf. Sie stiegen auf die Felsen, wobei der Hund mithalten konnte, und begaben sich auf die andere Seite des Kammes. Dort, so hofften sie, konnten sie sich an den Trollen vorbeischleichen.

Sie erreichten eine Stelle, an der der Weg eine Kehre machte. Baru, der ganz vorn war, konnte beide Richtungen überblicken.

Er gab ihnen ein Zeichen, und sie gingen näher an die Böschung zum Weg heran und sprangen hinunter. Plötzlich hörten sie aus der Ferne Geschrei. »Die Moredhel müssen bei den Trollen angekommen sein, und wahrscheinlich haben sie auch unsere Tiere entdeckt.« Sie begannen, den Weg hinunterzurennen.

Sie liefen, bis ihnen die Lungen wehtaten, doch hinter sich konnten sie immer noch Pferdegetrappel hören. Martin wich einem hohen Felsenturm an der Seite des Weges aus und schrie: »Hier!« Als die anderen zum Stehen gekommen waren, fragte er: »Kannst du dort hochgehen und die Felsen herunterstoßen?«

Baru sprang und kletterte die Böschung hoch, duckte sich hinter dem wackeligen Felsenhaufen und winkte Laurie und Roald zu, sie sollten ihm folgen.

Die Reiter kamen in Sicht, und der erste gab seinem Pferd die Sporen, als er Martin und den Hund entdeckte. Die anderen Reiter tauchten einen Moment später auf. Der Herzog von Crydee visierte den angreifenden Anführer ruhig an. Er ließ den Pfeil erst fliegen, als der Reiter den engsten Teil des Weges erreicht hatte, und dann ragte aus der Brust des heranstürmenden Pferdes ein Schaft. Das Tier ging wie vom Blitz getroffen zu Boden, und der Moredhel flog über den Kopf des Pferdes, schlug hart auf dem Weg auf und brach sich dabei das Genick. Das zweite Pferd stolperte über das gestürzte und warf seinen Reiter ebenfalls ab. Martin tötete den Reiter mit einem weiteren Pfeil. Unter den anderen Reitern kam es zu einer ziemlichen Verwirrung, als ihre Tiere auf die Straßensperre aus toten Pferden und Reitern zustürmten. Zwei weitere Pferde schienen sich verletzt zu haben, doch Martin war sich dessen nicht sicher. Da schrie Baru etwas. Und Blutark lief in großen Sätzen den Weg hinab.

Martin folgte ihm, und im gleichen Moment erfüllte das Gepolter herabstürzender Felsen die Luft. Lawinenartig rauschten die Steine hinunter. Martin konnte die Flüche und Rufe seiner Gefährten hören, als neben ihm ein Regen von kleineren Felsbrocken niederging.

Er blieb stehen und beobachtete, wie die Steine herunterkamen. Die Luft war voller Staub, und er konnte kaum noch etwas erkennen. Dann, als sich der Staub senkte, hörte er Laurie seinen Namen rufen. Er rannte zurück und kletterte den Hang hoch. Oben griffen Hände nach ihm, und durch die Tränen, die ihm der Staub in die Augen getrieben hatte erkannte er Laurie. »Roald«, sagte der und zeigte nach unten.

Der Söldner hatte den Halt verloren, war hinuntergerutscht und dabei leider auf der falschen Seite der Barriere gelandet. Dort saß er mit dem Rücken zu den Felsen und überblickte den Weg, wo sich weiter hinten die Moredhel und Trolle neu formierten. »Wir geben dir Deckung!« schrie Martin.

Roald drehte sich um und schrie mit einem grimmigen Lächeln auf den Lippen zurück: »Kann nicht laufen! Meine Beine sind gebrochen.« Er deutete auf seine ausgestreckten Beine, und Martin und Laurie sahen, wie das Blut langsam durch den Stoff sickerte. Der Knochen hatte sich deutlich sichtbar durch das eine Hosenbein gebohrt. Roald saß da, das Schwert auf dem Schoß, die Dolche bereit zum Werfen. »Los, haut schon ab! Ich halte sie noch eine Weile auf. Los, macht schon!«

Baru trat zu Laurie und Martin. »Wir müssen uns aufmachen«, sagte der Hadati.

Laurie rief: »Wir werden dich nicht im Stich lassen!«

Roald hielt seine Augen weiter auf den Weg gerichtet, wo sich schemenhafte Gestalten im Staub bewegten, und schrie: »Ich wollte immer wie ein Held sterben. Die ganze Sache darf nicht wegen mir schiefgehen, Laurie. Dichte ein Lied über mich - aber ein gutes. Und jetzt verschwindet!«

Baru und Martin zerrten Laurie die Felsen hinunter, und nach einem Moment kam er endlich widerwillig mit. Als sie die Stelle erreichten, wo Blutark wartete, begann Laurie als erster zu rennen. Sein Gesicht war grimmig verzerrt, doch in seinen Augen standen keine Tränen. Hinter sich konnten sie die Rufe der Trolle und Moredhel hören, die von Schmerzensschreien begleitet wurden, und sie wußten, Roald verkaufte sich nicht unter Wert. Dann verstummte der Lärm des Kampfes.